Auf der Treppe

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Erschienen ist dieser Aufsatz in 16 + 1 Geheimnisse aus dem Kloster Wettingen, herausgegeben von Anna Capaul im Rahmen ihrer Maturarbeit an der Kantonsschule Wettingen im Februar 2009.

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Auch heute ist die Beschaffenheit des Bodens ein Dauerthema bei meinen Aufenthalten im Freien. Ständiges Absuchen nach Buckeln und Bördli und Kanten und rutschigem Untergrund, unablässiges Einschätzen der Hindernisse stört die Konzentration, unterbricht die Konversation. Dennoch liegt diesem visuellen Abtasten heute eine weit grössere Gelassenheit zu Grunde als damals, wo noch niemand ahnte, welches genetische Trauerspiel auf meiner Lebensbühne aufgeführt würde, nicht einmal ich selbst. Auch ist es weit einfacher, auf vier Rädern das Gleichgewicht zu halten denn als aufrechte, auf zwei Beinen fort schreitende famula sapientiae.
Schliesse ich die Augen, taucht im Dunkel eine Tür auf, die ich mit der linken Hand ganz leicht öffnen kann. Danach kommt ein finsterer Gang. Dort sind es nur wenige Schritte bis zur nächsten, weit schwereren Tür mit dunkelroter Bemalung und einem kleinem Fensterchen, durch das ein dumpfes Licht in den Raum fällt. Dunkelgrauer Filzteppich spannt sich über den Boden. Mit eingeübter, ruckartiger Bewegung kann ich die Tür gegen die federnde Schliessmechanik einen Spalt breit aufziehen. Das geht schwer und ich bin leicht und die Klinke ist viel zu kunstvoll geformt und tut in der Hand weh und so reisse ich nur kurz an ihr und stemme mich dann von aussen gegen das Holz.
In meiner Erinnerung schneit es immer. Der Himmel ist von dickem, gräulichem Weiss und jegliches Geräusch ist ausgelöscht.
Nach dieser schweren hölzernen Türe, die von aussen betrachtet zu den feierlichen Ernsthaftigkeiten der klösterlichen Erscheinung gehört, fallen ein paar Stufen steil hinunter. Rechts ist ein solides Geländer. Jüngeren Datums müssen diese Absätze sein, denn nach einigen weiteren Schritten steige ich die alte Klostertreppe hinab, sicher zwanzig, dreissig Stufen sind das, nicht ganz regelmässig gepflastert und nicht gleich hoch wie tief so wie diejenigen weiter oben, sondern pflastersteinähnlich gemauert unterm Tritt und vielleicht halb so hoch wie tief. Möglicherweise sieht es ja heute nicht mehr so aus und dieser ganze Abschnitt gehört ins Imperfekt. Wie auch immer, jede imperfekte Stufe der alten Klostertreppe war von einem langweilig grauen, schmal gehauenen Stein abgeschlossen. Das Geländer war nun links und nicht von der Art, dass es ein wirkliches Festhalten meint, sondern eher ein Schlenkern einer vom meditativen Gärtnern ermüdeten Mönchshand. Die Treppe ist durch ein Dächlein vor Regen geschützt, oder sind die Ziegel der Abschluss der Mauer, an der sich die Treppe entlang zieht, ich weiss es nicht mehr. Mein Blick richtete sich damals, vor über 25 Jahren, und richtet sich heute noch eher nach unten. Nass wurden die Stufen jedenfalls trotzdem immer.
Es schneit, es matscht. Unten sind die „Baracken“, die auch wirklich solche sind/waren, denn ob es diesen ästhetischen Schluckauf noch immer gibt, keine Ahnung. Wir hatten dort alles ausser Musik- und Gesangsunterricht und Turnen und die musischen Gespenste Chemie und Physik, selbst den Sprachenschreck Mathematik, der aber wenigstens keine Fläschchen oder Metällchen oder Wägelchen oder Rämpchen braucht, um sich zu rechtfertigen. Eine 3 fing ich an der Matur. Während der mündlichen Prüfung versuchte ich meine Rettung an der Wandtafel und war völlig überrumpelt und verwirrt wegen meines unkoordinierten Gekrakels, das für den Experten ja aussehen musste wie hilfloses Nichtkönnen - allerdings bezog er das natürlich auf die Beherrschung der matematischen Matherie, nicht auf die der Feinmotorik. Die ist so was von selbstverständlich für Menschen mit genügender Menge des Proteins Frataxin, also für die allerallermeisten Menschen, dass sie an eine derartige Groteske überhaupt nicht denken: nicht an die Wandtafel schreiben können?? Ich hatte ja selbst nicht gewusst, dass ich das nicht kann. Wer denkt denn an so was. - Das mit den Vektoren, meinem Prüfungsthema, war hingegen schon in meinen damaligen Augen ein erschreckender Unfug und ich beherrschte die Sache auch tatsächlich nicht. Ein Bewusstsein für die massgebenden Dinge schlummerte wohl damals bereits in mir. Vektoren gehören ganz gewiss nicht dazu. -
Matsch verschmuddelte die leeren Räume und Spalten zwischen den kleinen Pflastersteinen der Stufen. Je garstiger das Wetter, desto schmieriger der Eisschneeschludder, der sich über den Untergrund pflatschte und die Treppe in eine wahre Herausforderung für alle sich eilig bewegenden Schülerinnen und Schüler verwandelte. Und wer konnte sich schon erlauben, es nicht eilig zu haben? Zehn Minuten zum Rasen von einem Klassenzimmer zum andern, durch verschlungene Gänge, über glitschige Treppen, im allgemeinen Gedränge. Schliesslich musste auch noch die Zigarette geraucht sein.
Noch hatte ich keine Diagnose, ja es war mir bisher noch nicht einmal eingefallen, dass etwas ernsthaft nicht in Ordnung sein könnte. Tatsächlich war das Hinabsteigen der Treppe für mich aber ein Spiessrutenlauf. Hinab, hinauf weniger. Bei rutschigem, in die Pflastersteinspalten fest getretenem Schneedreck war es der ultimative Horror. Ganz oben, bei den modernen Stufen, musste ich mich rechts festhalten am Geländer, dann, auf dem Zwischenabsatz, nach links wechseln. Bei Rechtsverkehr. Denn von unten, von den Baracken, strömten junge Menschen hinauf ins Hauptgebäude. Unzählige Male entschuldigte ich mich. Hätt ich mich nicht festgehalten, wär ich hundertpro ausgerutscht und hingefallen. Zittergefühl im Körper.
Aus der Vogelperspektive betrachtet musste das Bild wie die umgehende Umsetzung einer Metapher anmuten, die auch für die kommenden Jahre und Jahrzehnte ihre Gültigkeit bewahren würde. Das blonde wacklige Wesen da unten stolpert unfreiwillig gegen den Strom und stammelt Entschuldigungen. Wofür, wird auch später nicht ganz klar sein, weil sie ja wirklich nichts dafür kann. Aber Erklärungen würden zu lang dauern und irgendwas muss ja gesagt sein, um die höfliche Form zu wahren.
Einen Ausweg gab es freilich schon, wie es immer einen geben soll, doch bleiben die Ausdrücke hier gründlich zu hinterfragen, denn der Ausweg, wie hier auch, ist eher ein Umweg und immer gibt es nicht einmal Umwege. Hier war es sogar ein Herumweg, eine Serpentine, die vom Absatz nach der ersten, der neueren, Treppe zum unteren Ende der Klostertreppe führte. Der Weg war mit feinem Schotter bekieselt und nach Anlauf oder bei schnellem Gang konnte gerutscht werden, freiwillig oder unfreiwillig, was für mich allerdings beides ausser Frage stand. Ab und zu gönnte ich mir die Erleichterung dieses Umwegs, wobei also die Figur für einen lebenslänglichen Widerspruch gelegt wurde: Die physische Erleichterung würde mich jenseits des Stromes führen und kurz aufatmen lassen, doch es wird ein einsames Aufatmen sein, im sozialen Abseits, am Rande nur mit einem Fragezeichen wahrgenommen. Hin und wieder begleitete mich eine Freundin oder ein Freund, ging oder rutschte mit mir den Umweg. Auch das wird immer so sein! denkt mir die schwesterliche Schwalbe zu, die Konstellation von oben ruhig betrachtend.
Manche Bilder entwerfen Wahrheiten, die im Moment so gültig sind wie in der Zukunft und deren metaphorische Sprungkraft sich erstaunlich einfach in die Gegenständlichkeit übertragen lässt, was aber erst in der Retrospektive zu erkennen ist. In der Gegenwart ist nur hilfloses Gezappel möglich. Das Orakel würde freilich meinen, das Gezappel gehe noch lange weiter, und lachen.